Weisheit

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Weisheit

Weisheit

Eine Lebenskunst mit Überraschungen

„Konvivialismus“, übersetzt: die Kunst des Zusammenlebens, so lautet der Titel eines Manifests von DenkerInnen unserer Zeit, die sich Gedanken darüber machen, wie sehr unterschiedliche Menschen in einer Gesellschaft zusammen an einem Tisch sein, leben und voneinander lernen können. Lebenskunst, Überlebenskunst, Weltverbesserung – in diesen Zeiten der neu zusammenwachsenden Gesellschaften aus allen Himmelsrichtungen ist die biblisch-psalmische Weisheit so aktuell wie nie. Wir leben heute in wahrhaft reformatorischen Zeiten!

Auch die beiden großen Vordenker der Reformation des 16. Jahrhunderts, Johannes Calvin und Martin Luther, waren Theologen, die um die Kraft der psalmischen Weisheit wussten. Calvin und Luther sind an den Psalmen die Augen aufgegangen und sie haben ein neues, ungekanntes Vertrauen dafür bekommen, dass die Bibel Menschen hilft, sich selbst auf die Spur zu kommen und die Kunst des vertrauensvollen und wachsamen Lebens zu erlernen.

Johannes Calvins berühmtes Buch, die „Institutio“, beginnt mit dem Satz:

„All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grunde zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Diese beiden hängen vielfältig zusammen, und darum ist es nun doch nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt.“ (Institutio I,1,1)

Und Martin Luther schreibt im „Großen Katechismus“ in einer Meditation zum ersten Gebot: „Worauf du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“

Gottes- und Selbsterkenntnis, das ist die gemeinsame Spur beider Zitate, gehören unmittelbar zusammen. Im christlichen Glauben geht es darum, dass Gott in dieses Geheimnis, wer ich denn eigentlich bin und wer Gott denn eigentlich sei, Licht und Transparenz bringt. Die Rede von der „Weisheit“ zeigt Menschen eine Spur, so über sich selbst und so über Gott nachzudenken, dass beide Gedankenwege sich kreuzen können. Wobei kreuzen noch nicht heißt, dass hier Übereinstimmung, Zustimmung, Glauben herrscht.

Viele Menschen nehmen den christlichen Glauben auch heute als eine Ansammlung von Aussagen wahr, die man glauben und an die man sich halten sollte. Nun trifft es ja wirklich auf einen großen Teil der biblischen Tradition zu, dass Menschen hier mit den „mächtigen Taten Gottes“ konfrontiert werden, mit Ereignissen aus der Geschichte Israels und der jungen Kirche, zu denen der eigene persönliche Brückenschlag aus verschiedenen Gründen nicht leicht ist.

Die Psalmtexte werden aber auch von einer Spur durchzogen, in der ganz anders von Gott und den Menschen gesprochen wird: „Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden …“ (Psalm 90,12) Oder: „Herr, lehre mich bedenken, dass mein Leben ein Ziel hat.“ (Psalm 39,5) Gott wird hier und an anderen Stellen als ein Lehrender gezeichnet, der Menschen zum eigenständigen Nachdenken, zum Bedenken elementarer Lebensfragen anregt. Die Antworten, die Menschen auf diese Fragen geben, sind so offen wie es eine ehrliche Antwort aus eigener Erfahrung mit sich bringt. Alles liegt daran, dass auf unserer Seite ein echtes Nachdenken stattfindet – die Hoheit, ja die Autorität Gottes, tritt in diesen Texten ganz in den Dienst des menschlichen Nachdenkens. Johannes Calvin hat diese göttliche Demut so beeindruckt, dass er von einer „Verkleinerung“, einer Anpassung Gottes an unsere Vorstellungen gesprochen hat, aus der heraus biblische Texte überhaupt zu verstehen sind. Und auch Martin Luther hat viel darüber nachgedacht, an welchen Orten des geschöpflichen Lebens Gott uns verborgen, indirekt, ja sogar „unter seinem Gegenteil“ begegnet. Auch hier tritt die Erfahrung zutage: Gott kann sich zurücknehmen, und damit macht er der von ihm unzweifelhaft geschaffenen Welt Platz und Raum – sicher deshalb, weil er kein Interesse daran hat, auf einem fernen Thron zu herrschen, sondern er die Welt im Einklang mit sich geschaffen hat, was bedeutet: Er geht mit, er denkt mit, er denkt nach.

Dieser Gedanke, der die Selbstständigkeit unserer Gedanken, Fragen und Zweifel vor Gott stellt, führt im Buch der Sprichwörter dazu, der Weisheit gleichsam eine eigene schöpferische Gestalt zu geben. „Die Weisheit“ steht wie eine Prophetin oder auch wie eine Mittlerin zwischen Himmel und Erde, mitten „auf den Plätzen“ (Sprüche 1,20) und am Stadttor, um die Gedanken und Wege der Menschenkinder zu beeinflussen und zu richten. Die Selbstständigkeit der Frau Weisheit geht aber auch in die andere, die himmlische Richtung: So wird die Weisheit als erstes Geschöpf Gottes erfunden (Sprüche 8, 22-35); noch bevor Gott Himmel und Erde erschafft, hat er seine himmlische Freude an diesem ganz besonderen Gegenüber, der Weisheit, und er lässt sie vor ihm spielen. Aus diesem zugleich leichten und spekulativen biblischen Impuls werden sich dann in späterer jüdischer und christlicher Theologie weitere weisheitliche Impulse ergeben: Die jüdische Weisheitslehre der Kabbala und die christliche Trinitätslehre spielen mit der Erfahrung, dass Gott nie und niemals allein war, also auch vor aller erdenklicher Zeit nicht. Gott ist in Bewegung, zur Schöpfung unterwegs, mit ihr neugierig verbunden, daran interessiert, dass sich Menschen selbst auf die Spur kommen und einander neugierig und schöpferisch begegnen.

Weisheitliche Spiritualität, wie sie uns in den Psalmen und anderen Schriften begegnet, ist ein reizvoller Zugang zum biblischen Glauben: Sie überrascht uns mit der allergrundlegendsten Erfahrung: Wir sind Gottes Geschöpfe und leben damit in allen Dingen – ob wir dies bejahen oder nicht, ob es im öffentlichen Raum oder im intimsten Gedanken sei – zu Gottes Ehre. Dies geradezu nebenbei zu entdecken und in eine Kunst des Lebens und Zusammenlebens zu wandeln, macht die Weisheit zu einer Überlebenskunst, die vielleicht ihre Zeit noch vor sich hat.

Text: Martin Bock

Weiterlesen:

Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, hrsg. von Frank Adloff und Claus Leggewie, Bielefeld 2014. Vgl. www.diekonvivialisten.de

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