Gerechtigkeit

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Gerechtigkeit

Gerechtigkeit

Einsatz für die Schwachen

Wenn wir in unserm Alltag von „Gerechtigkeit“ sprechen, meinen wir häufig „Fairness“: Ein Schiedsrichter, der parteiisch pfeift, ist unfair und ungerecht. Er wird nicht dem Grundsatz von der Gleichbehandlung der Beteiligten gerecht. Für uns ist das treffendste Symbol von Gerechtigkeit die Waage, die vor dem Abwäge-Vorgang auf beiden Seiten den gleichen Ausschlag zeigt – nämlich Null. Und so finden wir die Waage häufig an oder in Gerichtsgebäuden abgebildet, noch dazu in den Händen einer Frau mit verbundenen Augen (iustitia), die eben, damit sie sich nicht vom Augenschein zu bestimmten Entscheidungen verleiten lässt, nichts sehen darf.

Das ist formale Gerechtigkeit. Sie hat im Rechtswesen und im Sport ihren Platz, den man ihr auf Grund anderer Gerechtigkeitsvorstellungen nicht streitig machen sollte. Aber es ist nicht die Gerechtigkeit, die die Psalmen im Blick haben. Diese ist inhaltlich bestimmt. Ganz gleich, ob sie von Gott oder den Menschen ausgesagt wird.

Gottes Gerechtigkeit: „Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes“ sagt Psalm 36,7 zu Gott. Darin steckt ein Hinweis auf den Ursprungsort dieser Gerechtigkeit: Es ist der Bund, den Gott mit seinem Volk am Berg Sinai geschlossen hat. In diesem Bund verpflichtet sich Gott zu Segen, Schutz und Treue – sofern sich das Volk ebenfalls an diesen Bund gebunden weiß und danach lebt. In diesem Sinne bedeutet Gottes Gerechtigkeit: Er wird den Zusagen dieses Bundes, seinen Verheißungen, „gerecht“.

Der Gott der Psalmen kann nicht wie der Schiedsrichter auf dem Fußballplatz unparteiisch und neutral sein – und in diesem Sinne einer formalen Gerechtigkeit Genüge tun –, sondern er hat sich schon im Vorhinein festgelegt auf Parteinahme für die, die auf ihn vertrauen und ihn brauchen.

Des Menschen Gerechtigkeit: Auch sie misst sich an dem Bund zwischen Gott und dem Volk Israel. „Gerecht“ ist ein Mensch (z. B. Ps 55, 23), wenn er diesem Bundesverhältnis zu Gott entspricht, Gottes Willen tut und sich auf ihn verlässt. Wenn die Mächtigen dafür kritisiert werden, dass sie eben nicht nach Recht und Gerechtigkeit schauen und richten (Ps 58, 2f), dann darum, weil sie nicht den im Bund mit Gott ausgesprochenen Willen Gottes verwirklichen, der das Wohl und Heil aller Mitglieder des Volkes will, sondern ihre eigenen Machtinteressen.

Es sind deshalb in den Psalmen häufig Menschen in Not – die Armen, die Unterdrückten, die Angefeindeten – die an Gottes Gerechtigkeit appellieren und von ihr Hilfe in ihrer Not erwarten (Ps 54, 3). Dass sie selbst sich in diesem Vorgang als „Gerechte“ sehen (Psalm 55, 23), entspricht dem Grundgedanken des Bundes, der beide Seiten verpflichtet.

Im Gerechtigkeitsverständnis der Psalmen (wie übrigens auch der Propheten Israels) findet sich ein Vorschein der „Theorie der Gerechtigkeit“ des Philosophen John Rawls, einer der bedeutendsten Formulierungen von Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert. In aller Kürze: Gerecht ist nach Rawls eine Gesellschaftsordnung, in der, wenn es denn zur ungleichen Verteilung von Chancen kommen muss, nach Möglichkeit immer zugunsten der schwächsten Mitglieder entschieden wird. Die Gerechtigkeit Gottes in den Psalmen ist letztlich die Zusage seines Beistands an die Schwachen, die sich selbst nicht helfen können.

Die schönste Beispielgeschichte zum Gerechtigkeitsverständnis in den Psalmen steht gar nicht in den Psalmen selbst: Es ist die Geschichte vom König Salomo, der zwischen zwei Frauen entscheiden soll, die beide dasselbe Kind für sich beanspruchen (2. Könige 3, 16-28). Salomo entscheidet gegen die Frau, die darauf besteht, dass das Kind ihr Eigentum ist. Notfalls ist sie sogar damit einverstanden, dass das Kind halbiert wird – eine Art formale Gerechtigkeit: Jede bekommt das Gleiche. Stattdessen spricht Salomo das Kind der Frau zu, die eher darauf verzichten würde, als es halbieren zu lassen. Weil er weiß, dass sie das Wohl des Kindes und nicht ihr Eigentum im Blick hat.

Er entscheidet damit also zugunsten des schwächsten Gliedes, des Kindes. Und nicht im Sinne einer „gerechten“ Verteilung von Eigentum. Der Einsatz für die Schwachen: das ist Gerechtigkeit im Sinne der Psalmen.

Text: Wilhelm Otto Deutsch

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