Not

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Mut, Not

Not

Stricke des Todes

Das Boot ist überfüllt. Dicht gedrängt stehen Männer, Frauen und Kinder an Deck und hoffen auf Rettung. Sie treiben im Mittelmeer und setzen ihr Leben ein, um der Not in ihren Heimatländern zu entkommen. Not bedeutet für sie: in einem Land zu leben, das vom Bürgerkrieg zerrissen wird. In einem Land zu leben, in dem Kinder nicht sicher zur Schule gehen können. In dem das eigene Haus nur noch eine Ruine ist. In dem Nachbarn und Verwandte im Gefängnis gequält oder von Bomben getötet worden sind. In dem es nichts mehr gibt, auf das sie ihre Hoffnung setzen können.

So besteht ihre einzige Hoffnung darin, dass jemand sie rechtzeitig herausreißt aus dem Boot, bevor es kentert. Dass jemand auch ihre Kinder und ihre Frau ergreift und auf ein rettendes Schiff zieht. Dass jemand zupackt und nicht loslässt, bis sie sicheren Boden unter den Füßen haben. Dass jemand sie herauszerrt aus dem Kleintransporter, in den Schleuser sie gestapelt haben wie Ware. In dem es dunkel ist und in dem die Luft nicht ausreicht. Tausende sind ertrunken und erstickt. Die Enge, der die Flüchtlinge auf den Booten oder in den Lastwagen ausgesetzt sind, ist lebensbedrohlich. Sie ist mit Todesangst verbunden.

Die deutschen Wörter „Enge“ und „Angst“ leiten sich vom gleichen indogermanischen Wortstamm her. Von einer solchen Enge spricht Psalm 50, Vers 15. Das hebräische Wort „zarah“, das Luther mit „Not“ wiedergibt, bedeutet auch Enge, Bedrängnis, oder in der Verbform „zarar“: zusammenbinden, verschnüren, zusammengedrängt, beengt sein.

Andere Psalmen variieren den Begriff: Ein Psalmbeter spricht von den „Stricken des Todes“, die ihn einschnüren (Psalm 116,3). Ein anderer ist sicher, dass Gott ihn belebt, auch wenn er mitten durch seine Angst gehen muss (Psalm 138,7). In Psalm 22 fühlt sich der Psalmdichter von Stieren, Löwen und Hunden umringt und bedrängt, er sieht nirgendwo Hilfe und bittet Gott im gleichen Atemzug, ihm nahe zu sein. In Psalm 91, Vers 15, sagt Gott zu, allen zu antworten, die nach ihm rufen und bei ihnen zu sein in ihrer Not. Er werde sie herausreißen und ihnen Würde geben.

Gemeinsam ist diesen Psalm-Aussagen, dass sie wenig konkret sind. Worin die „Not“ im Einzelnen besteht, woher die Todesangst rührt, bleibt (weitgehend) offen. Damit können Leserinnen und Leser ihre eigene Not und Bedrängnis in diese Psalmen hineinlesen. Und sie können die Zusage Gottes, sie aus ihrer Bedrängnis herauszuholen, auf sich beziehen.

In Psalm 50 setzt die von Gott zugesagte Rettung allerdings voraus, dass sich Israel in seiner Not an Gott wendet, dass es Gott um Hilfe anruft. Und Gott erwartet, dass Israel ihm dankt und ihn ehrt. Eingebettet ist die Zusage der Rettung in ein Gerichtsszenario, in dem Gott diejenigen in Israel, die Unrecht tun und ihn vergessen, anklagt und Himmel und Erde als Zeugen anruft. Insgesamt hat der Psalm aber einen eher pädagogischen Ton: Gott will denen, die seine Gebote missachten, vor Augen führen, was sie getan haben; er fordert von ihnen Rechenschaft (Vers 21); er will ihnen den Weg weisen; er will ihnen zeigen, wie er rettet (Vers 23). Die Zusage der Rettung aus der Not ist demnach eng verbunden mit der innigen, wechselseitigen Beziehung Gottes zu seinem Volk.

Gott verspricht in Psalm 50, Vers 15, und in vielen anderen Psalmen, Menschen aus einer Situation der Enge herausziehen. Aus einer Situation, wie sie die Flüchtlinge erleben, die auf jemanden hoffen, der sie aus dem überfüllten Boot herausholt oder sie aus dem verschlossenen Lastwagen befreit.

Text: Katrin Keita

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